Der Osterkuß

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Das Blatt der Hausfrau„, 1902, Heft 28, Seite 685,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 02.04.1904


„Links — rechts, links — rechts — — immer frei weg — links — rechts — — nicht so mit den Armen schlendern, Fähnrich! Hier ist kein Ausverkauf! Außerdem sind Sie kein Kommis, sondern preußischer Soldat und russischer Ferscht, mit Erlaubnis zu sagen! Links — rechts, links — rechts — — raus mit den Fußspitzen! Rrraußer — zum Donnerwetter nochmal! Der Parademarsch ist kein Krakowiak! Links — rechts, links — rechts — — — haaalt! — Front! Rührt Euch!”

Sergeant Fließ wischte mit dem Wildleder der Rechten über seinen Mund, den er sich wieder mal „fusselig” geredet hatte, seufzte und schaute um sich — mit dem müden, verzagten Blicke eines Menschen, der keinen Ausweg mehr weiß aus einem Labyrinth von Sorgen und Kümmernissen. Aber gleich darauf fuhr er herum und maß sein Erziehungsobjekt mit den Augen eines Menschenfressers.

„Was ist los, Fähnrich? Was haben Sie eben gesagt?!”

„Gott sei Dank — Herr Sergeant.”

Für einige Augenblicke erstarrte der militärische Instruktor zur Statue der Sprachlosigkeit. Dann trat er mit vorgeneigtem Kopfe und dem Schleichschritte eines lauernden Panthers an seinen Zögling heran.

„Mensch! Durchlaucht! Kanake!” hauchte er entgeistert. „Sie — Sie wagen es, im Dienst, unter den Augen Ihres Vorgesetzten, mit Erlaubnis zu sagen einen Dankgottesdienst abzuhalten, wenn „Rührt Euch” kommandiert ist?”

„Väterchen, ich — —”

„Väterchen!” heulte der Sergeant in den hohen Tönen jenes Humors, welcher der Gipfel des Ingrimms ist. „Väterchen! Er sagt schon wieder Väterchen! Ist so was dagewesen auf einem Kasernenhof!? Der Deuwel ist Ihr Väterchen, Herrrr! Verstehen Sie mich!? Ich bin der Sergeant Fließ! Ihr Herr Sergeant, dem der Himmel in seinem Zorn Ihre Ausbildung übertragen hat. Ich will Ihnen was sagen, Fähnrich. In allem Ernst: Wenn Sie sich jetzt nicht bald zusammennehmen und vor allen Dingen Ihre verfluchten vertraulichen Kosakenmanieren ablegen, dann hat es geschnappt. Ich spiele nicht mehr mit. Ich nehme mit Erlaubnis zu sagen meine Pupp' und geh' nach Haus. Und wenn es mich meinen lieben bunten Rock kosten sollte. Ich bin lieber Gerichtsvollzieher oder Polizist als Bändiger all der wilden Männer, die den Aberglauben haben, preußische Gardeoffiziere werden zu können — —”

„Sergeant Fließ! Kommen Sie mal einen Augenblick!”

Hauptmann von Kastell hatte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet und wohl auch Einzelheiten der Philippika vernommen. Er winkte den Heranstürmenden beiseite und fragte:

„Sagen Sie mal, Fließ — geht es denn immer noch nicht?”

„Zu Befehl, nein, Herr Hauptmann!” erwiderte der Sergeant, indem er ausatmete wie ein geplatztes Gummikissen. „Fähnrich Fürst Soltowski ist mit Erlaubnis zu sagen der lästigste Ausländer, der mir jemals vorgekommen ist. Ich habe schon einen Türken ausgebildet und zwei Japaner, wovon der eine sogar eine Brille trug. Aber hier ist alles vergeblich.”

„So. Das ist aber betrübend, Fließ. Wir dürfen die Sache nicht leicht nehmen. Der Mann hat die glänzenden Aussichten, die er durch seinen Namen und die Rangstellung seines Vaters in der russischen Armee zweifellos gehabt hätte, glatt aufgegeben. Er hat sich naturalisieren lassen und durch seine hohen Verbindungen erwirkt, bei uns eintreten zu dürfen. Das alles ist ungewöhnlich und erfordert unsererseits ebenfalls ungewöhnliche Geduld und Ausdauer — umsomehr als unsere Bemühungen von hoher Kommandostelle aus mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. In etwa vierzehn Tagen habe ich an das Regiment und das Regiment an die Brigade zu berichten. Und da möchte ich nicht, daß es in dem Berichte heißt, der sonst tüchtige Sergeant Fließ habe sich in diesem einen Falle der ihm gestellten Aufgabe nicht gewachsen gezeigt. Das wäre unangenehm, nicht wahr?”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

„Und zum Vizefeldwebel möchte man doch auch eingegeben werden —”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Ein Sonnenstrahl froher Hoffnung verklärte die umdüsterten Züge des Sergeanten.

„So werden wir also mit Geduld und Eifer bei der Sache sein,” mahnte der Hauptmann wohlwollend. „Jeder Russe ist ein geborenen Soldat, lieber Fließ. Das hat unser Moltke schon gesagt. Die abweichenden Eigenheiten im Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen auszugleichen, ist unsere Aufgabe. Morgen ist Ostern. Gleich nach den Feiertagen werde ich den Fähnrich noch ein weniges persönlich in die Hand nehmen, und es müßte doch mit dem Kuckuck zugehen, wenn wir nicht zum Ziele kommen sollten. Also gehen Sie wieder an die Arbeit. Danke.”

Getröstet und hoffnungsfreudigen Gemüts machte der Sergeant Fließ seine vorschriftsmäßige Kehrtwendung. Leuchtend vor Diensteifer suchte sein Blick den Moskowiter, dem er nun schon den preußischen Murr in die durchlauchtigen Knochen hineindrillen wollte! Aber der Fähnrich war nicht vorhanden.

An der Stelle, wo der Sergeant ihn hatte stehen lassen, und wo er ihn ohne gegenteiliges Kommando noch nach tausend Jahren hätte finden müssen, war nichts — nicht einmal ein Loch im Sande. Dafür aber spielte sich drüben, wo das Eisengitter den Kasernenhof nach der Straße hin abschließt, ein Genrebildchen ab, das dem Sergeanten das Blut in den Adern erstarren machte.

Der Fähnrich begrüßte soeben mit der ritterlichen Lebhaftigkeit und liebenswürdigen Zwanglosigkeit seiner Rasse zwei Damen und — den Herrn Brigadekommandeur.

Das lebhafte Getriebe auf dem Kasernenhofe verstummte und setzte aus. Den Unteroffizieren blieb das Kommando in der Kehle stecken, so daß einige Abteilungen mit aufgehobenem rechten Bein, andere in der noch schwierigeren tiefen Kniebeuge verharrten. Offiziere und Mannschaften waren zu Eis erstarrt — und diese Spannung löste sich erst, als der General den Kasernenhof betrat, den verdutzten Fähnrich beim Aermel nahm und ihn höchsteigenhändig heranschleifte. Die zur Meldung verpflichteten Offiziere stürmten heran — aber sie wurden abgewinkt bis auf den Hauptmann von Kastell.

„Herr Hauptmann, ich habe im Moment keine Zeit, Ihre Erklärung entgegen zu nehmen über den befremdlichen Umstand, daß ein Fähnrich Ihrer Kompagnie während des Dienstes auf den Visitenbummel geht. Ich bitte Sie, sich unter Darlegung des Tatbestandes bei Ihrem Herrn Regimentskommandeur zu melden und ihm gleichzeitig mitzuteilen, daß ich bezüglich des Fähnrichs eine Strafe von acht Tagen Mittelarrest für angemessen erachte. Begleiten Sie mich noch einen Augenblick, Herr Hauptmann.”

Während der unglückliche Häuptling auf dem Wege bis zum Hoftore noch verschiedene, anscheinend sehr peinliche Einzelheiten zu hören bekam, keuchte Sergeant Fließ den Ausreißer an:

„Mensch! Ferscht! Himmelhund! — mit Erlaubnis zu sagen! Sind Sie rammdösig geworden!? Sie schlagen sich vom Dienst seitwärts in die Büsche und machen Komplimente wie der Ziegenbock vor der Windmühle!? Wissen Sie, was ich jetzt möchte, Fähnrich? Ich möchte in Rußland sein und Sie an der Strippe haben auf dem halben Wege nach Sibirien! Was meinen Sie wohl, wie ich mit Ihnen abreisen würde! Sie — Sie — — asiatischer Europäer, Sie!”

*           *           *

Es war ein frischer Ostermorgen.

Nicht so sonnig und schön, wie man eigentlich verpflichtet ist, einen Ostermorgen zu schildern. Aber die Feiertage sind eben nicht immer so, wie sie sein sollten; sie haben ihre Nicken — genau wie die Menschen, die auch manchmal Sturm und Regenstimmung zeigen, wenn sie von Rechts wegen ein Festtagsgesicht aufsetzen müßten.

Bei Fräulein Lisa von Zehlen, dem reizenden und vielumschwärmten Töchterchen des Brigadegenerals, verdichtete sich die trübe Stimmung nach und nach zu richtigen feuchten Niederschlägen. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen vor Kummer und Herzweh. Sie fühlte sich müde und elend und war infolgedessen auch nicht zur Kirche gegangen. Die besorgte Frau Mama leistete ihr Gesellschaft, aber ohne den geringsten tröstlichen Einfluß gewinnen zu können. Im Gegenteil: Je eindringlicher die Frau Generalin auf ihr Töchterchen einredete, desto regnerischer wurde es.

„Du mußt doch einsehen, mein Kind,” predigte die alte Dame mit der ganzen Inbrunst eines blutenden Mutterherzens, „daß zwischen heute und damals ein gewaltiger Unterschied ist. So lange Papa Militärattaché in St. Petersburg war, stand der Sohn des Fürsten Soltowski mit uns auf dem Fuße gesellschaftlicher Gleichberechtigung. Seit er aber als Fahnenjunker in ein preußisches Regiment eingetreten ist, gibt es doch zwischen ihm und einem preußischen General gewisse Schranken.”

„Gewiß. Aber man braucht ihn nicht wie einen Sträfling zu behandeln!” schluchzte das junge Mädchen empört.

„Das tut man auch nicht. Er wird nur bestraft, wenn er sich etwas Strafbares zu schulden kommen läßt. Und daß er gestern vom Exerzierplatz weg an uns herangetreten ist, das ist doch wohl das Stärkste, was ein Soldat im Dienst begehen kann.”

„Er war so glücklich, wie er mich sah — er wollte uns doch nur guten Tag sagen — —”

„Das genügt gerade. Ich begreife nicht, Lisa, wie ein Mädchen, das erklärt hat, nur einen preußischen Offizier heiraten zu wollen, mit einem Male so wenig militärischen Sinn zeigen kann. Es ist gewiß rührend, daß der Fürst auf Deine vielleicht nicht einmal so ernst gemeinte Andeutung hin sofort seine Naturalisation und Aufnahme in die Armee betrieb, — aber da müssen doch nun auch alle Konsequenzen gezogen werden. Namentlich von Dir, da Du doch die Ursache der ganzen peinlichen Geschichte bist.”

„Ich dachte es mir so nett, ihn in unserer Uniform zu sehen — und wie sah er gestern aus! Zum Erbarmen!” rief die Kleine in fassungslosem Schmerz mit gerungenen Händen. „Der eleganteste Kavalier am russischen Hofe — und die dritte Garnitur! Hast Du gesehen, wie ihm die Halsbinde hinten herauskroch? Und die Stiefel! Mama, die Stiefel hättest Du sehen müssen! Dazu angeschnauzt und nun auch noch eingesperrt! Wie Papa gestern mit ihm abfuhr, ehe er auch nur ein Wort herausgebracht hatte — — Ach Gott, ich mag gar nicht daran denken! Und ich bin an all dem Schrecklichen schuld! Er wird mich hassen — er wird — — —”

„— nach Dalldorf kommen,” ergänzte der General, der eben von der Kirche heimkehrte und beim Eintreten die letzten Worte gehört hatte. Dann setzte der General von Zehlen seinen federgeschmückten Helm mit hörbarem Nachdruck auf den nächsten Tisch, warf sich in den danebenstehenden Sessel und lachte — lachte; daß die Damen entsetzt auf ihn zueilten.

„Kinder!” schrie der alte Herr mit tränenden Augen, „bleibt mir vom Leibe, damit Ihr nicht zu Schaden kommt, wenn ich platze! Aaaaach — ich kann nicht mehr! Puh! Wißt Ihr, was Durchläuchting angerissen hat!?”

„Papa —!”

„Aber so sprich doch, Mann!”

„Das ist leicht gesagt! Erst können vor Lachen! Das ist überhaupt gar nicht zu beschreiben! Das muß man gesehen, erlebt haben! Ich komme aus der Kirche — die Truppen formieren sich zur Parade. Wer kommt auf mich zu? — Durchläuchting. Kaum, daß er grüßt, jodelt er mir den russischen Ostergruß entgegen: „Christ ist auferstanden!” Ich denke nicht anders, als der Kerl ist religiös wahnsinnig geworden — und um Aufsehen zu vermeiden, erwidere ich, wie ich das von Petersburg her kenne: „Er ist in Wahrheit auferstanden!” Kaum habe ich das gesagt, kriegt er mich mit hellen Tränen in den Augen beim Wickel, und ehe ich überhaupt noch strampeln konnte, hatte der Brigadekommandeur General von Zehlen von seinem jüngsten Fähnrich vor versammeltem Kriegsvolke einen griechisch-orthodoxen Osterkuß mitten im Gesicht, daß es nur so knallte — —”

„Um Gottes willen, das ist ein Affront —” stammelte die Frau Generalin, indem sie sich um ihr herzbrechend schluchzendes Töchterlein bemühte.

„Das ist noch mehr, meine Liebe,” erklärte Herr von Zehlen trocken, indem er sich erhob und seine schmerzenden Seiten strich, „das ist der Beweis, daß Lisa eine alte Schraube wird, wenn sie abwarten will, bis der kleine Soltowski preußischer Offizier geworden ist. Das wird der nie. Nie! Und dann auch noch unvollkommen. Also ich will Euch mal was sagen. Sowie der seine acht Tage abgebrummt hat —”

Er unterbrach sich, da das Dienstmädchen eintrat und eine Karte überreichte.

Fürst Dimitrij Soltowski, Fahnenjunker im Regiment Ernst Alexander.

„Der Kerl ist verrückt! Der Kerl ist verrückt!” schrie der General. „Er sollte sich sofort nach der Kirche in Arrest melden! Und jetzt kommt er auf Besuch — Herrrr —” pfiff er den mit kindsvergnügtem Gesicht eintretenden Fähnrich an, „Sie sollten doch brummen! Wie kommen Sie hierher?”

„Herr General,” erwiderte der Russe treuherzig. „Wir haben doch den Osterkuß miteinander ausgetauscht — und wenn das geschehen ist, so ist aller Hader und Zorn vergessen und alle Feindschaft vergeben. Der Ostersegen beseitigt alles — auch den Arrest.”

Dann wandte er sich herzlich und feierlich den Damen zu:

„Christ ist auferstanden!”

Im nächten Moment hing Lisa von Zehlen an seinem Halse, und das herrliche, jauchzende Ostern der Liebe klang aus ihrer Stimme, als sie erwiderte:

„Er ist in Wahrheit auferstanden!”

Und der Ostertag wurde noch so sonnig und schön, wie man eigentlich einen Ostertag schildern soll. Allerdings hatte sich der Fahnenjunker Fürst Dimitrij Soltowski verpflichten müssen, die acht Tage abzubrummen und dann mit größter Beschleunigung seinen Abschied einzureichen.

Ende

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